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Pratos Identität und die “Cintola” von Bernardo Daddi

Das Prato von heute, wie immer in neuerer Vergangenheit eine erfolgreiche Industrie- und Handelsstadt, sucht seine eigene Identität im Mittelalter, als es eine Freie Stadt war und feinste Wollstoffe produzierte, neue Banktechniken erfand und vor allem Kunstwerke schuf

Pratos Identität und die “Cintola” von Bernardo Daddi

Text und Foto: Paolo Gianfelici

Prato-Toskana-TiDPress (9).cPrato – Nach der Einwohnerzahl (fast 200.000) ist Prato die zweitgrößte Stadt der Toskana und die dritte in Mittelitalien. Das kleine historische Zentrum ist faszinierend; es ist reich an Kirchen, mittelalterlichen Palästen und Museen. Prato ist ein bedeutendes Zentrum für moderne Kunst und koordiniert diesen Bereich in der ganzen Toskana. Trotzdem ist es der Stadt nicht gelungen, das Cliché eines großen, für den Kulturtourismus wenig interessanten Industriezentrums loszuwerden. Zu diesem negativen Bild haben die ungeordneten und wenig attraktiven Wohnbereiche der zeitgenössischen Moderne beigetragen. Ein anderes Motiv, aber dafür sind die Einwohner von Prato nicht verantwortlich, besteht in den beunruhigenden Nachbarschaft von Florenz (nur 24 km), das in der Vergangenheit die autonome Entwicklung der Stadt, die eine blühende Periode als Stadt erlebt hatte, behindert hat. Florenz ist jetzt die unschlagbare Konkurrentin hinsichtlich des touristischen Angebots.

Erfüllt von einigen dieser “Vorurteile” bin ich an einem regnerischen Septembermorgen nach Prato gekommen. Der Himmel war hellgrau und ließ ein Licht durchscheinen, das die Umrisse der schwäbischen Festung aus der Ferne platt erscheinen ließ. Je mehr ich mich aber der Burg Friedrichs II. näherte, desto mehr erstaunte mich die geometrische Symmetrie der Mauern, der Bastionen, der Portale und der Zinnen. Die Erinnerung an die schwäbischen Festungen in Süditalien drängte sich auf, ebenso wie das Erstaunen, hierfür in Prato das einzige Beispiel im Norden der Halbinsel zu finden.

Um an der Eröffnung der Ausstellung “Legati da una cintola – L’Assunta di Bernardo Daddi e l’identità di una città” (Verbunden durch einen Gürtel – Die Himmelfahrt Mariens von Bernardo Daddi und die Identität einer Stadt) im Prätoren-Palast teilzunehmen, bin ich durch die gepflegten und stillen Straßen des Zentrums gegangen: wenige Leute zu Fuß oder per Fahrrad, einige seltene Autos. Die antiken Häuser sind nicht sehr hoch, die Atmosphäre gleicht dem Alltag einer sorgenfreien Provinzstadt. Unverhofft ist vor meinen Augen ein architektonisches Juwel erschienen: der Dom Santo Stefano und seine wunderbare Außenkanzel aus Marmor, Bronze und Mosaiksteinen – ein Werk von Donatello und Michelozzo.

Beim Weitergehen sah ich aus einer Ecke die beiden Fassaden des Prätoren-Palastes. Auf der einen überraschen elegante zweibogige Fenster, die andere ist dagegen von prunkloser Machart. Der Kontrast ist bedeutungsschwer. Er drückt die doppelte Berufung der Stadt aus: Funktionalität und Praxisgeist, aber auch Kunst und Schönheit. Auf der Piazza del Comune liest eine Frau ein Buch; sie sitzt in der Nähe der Statue von Marco Datini (1335 – 1410), genannt “der Kaufmann von Prato”. Er ist für die Verbreitung des „Wechselbriefs“ bekannt (Vorläufer der Banküberweisung und des Wechsels).

Der Titel der Ausstellung steht am Eingang des Museums in Prätoren-Palast. Mich erstaunt vor allem der Ausdruck „Identität einer Stadt“. Das Prato von heute, wie immer in neuerer Vergangenheit eine erfolgreiche Industrie- und Handelsstadt, sucht seine eigene Identität in fernen Epochen, im Mittelalter, als es eine Freie Stadt war und feinste Wollstoffe produzierte, neue Banktechniken erfand und vor allem Kunstwerke schuf.

Besonders das auf dem Prospekt der Ausstellung abgebildete Gemälde von Agnolo Doddi (Der Hlg. Thomas überreicht, begleitet von anderen Aposteln, die „Cintola“ einem Priester aus Jerusalem) drückt sehr gut das Konzept „vereint gewinnt man“ aus, vor allem wenn man große Ideale hat.

Nach dem Besuch der prächtigen Ausstellung kehre ich zum Domplatz zurück und gehe in die Stephanskirche. Dort besichtige ich die Kapelle, in der die Reliquie der „Cintola“ aufbewahrt wird. Sie ist mit Fresken zur Geschichte der Jungfrau Maria und der „Cintola“ geschmückt; der Zyklus wurden von Agnolo Gaddi 1392-1395 geschaffen.

Eine Frau – sie scheint aus Afrika südlich der Sahara zu stammen – hält den nicht gerade intensiven, aber doch ungeordneten Strom der Besucher im Zaum. „Folgen Sie bitte dem durch Pfeile angezeigten Rundgang!“. Wer auf den Hauptaltar von der verkehrten Seite steigt, an den wendet sie sich mit lauter, entschlossener Stimme: „Ein bisschen Ehrfurcht für den Ort, an dem Sie sich befinden“. Sie ist die unermüdliche Bewacherin der Kathedrale. Aber schon bevor es die Augen sehen, spürt man, dass sie mit dem Herzen arbeitet. In Prato hat sie ihre Identität (wieder) gefunden. Auch sie, ein Neuankömmling, fühlt sich durch die „Cintola“ mit der Stadt verbunden.

Übers.: Richard Brütting

“Legati da una cintola – L’Assunta di Bernardo Daddi e l’identità di una città”
Museo di Palazzo Pretorio
Piazza del Comune – Prato
museo.palazzopretorio@comune.prato.it
www.palazzopretorio.prato.it

 

 

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