“La terra dei figli“ (das Land der Kinder)
Text: Paolo Gianfelici
Taormina – Es gab eine Zeit, in der auch Liebesgeschichten einfacher waren. Das „Taormina Film Fest“ schildert mit dem israelischen Film „Honey Mood“, der in einer Luxux-Suite eines Hotels in Jerusalem anfängt, wie kompliziert das Zusammenleben eines Paares nach der Hochzeit sein kann In dieser „alles in einer Nacht“ Geschichte erkennt man viele Gegensätze unserer Gesellschaft. Der Mann, der sich noch von den Eltern beeinflussen lässt, die Frau, die nur Emotionen sucht sowie andere Darsteller, die sehr auf sich selber konzentriert sind. Eine heitere Geschichte, die auch zum Nachdenken einlädt.
„Nebenan“, des deutschen Schauspielers Daniel Brühl, der zum ersten Mal als Regisseur und Darsteller zugleich agiert, ist ein gut gelungener Spiegel unserer Gesellschaft. Der Schauspieler, der im Spielfilm den gleichen Namen trägt, hat alles erreicht was anscheinend heutzutage im Leben wichtig ist: Geld, eine elegante Wohnung, eine schöne Frau und nette Kinder. Aber sein Schicksal, in Person des – für ihn – unsichtbaren Nachbarn Bruno, wartet in der Kneipe „Zur Brust“ auf ihn. Daniel trinkt dort eines Morgens, bevor er nach London zu einem wichtigen Casting fliegt, eine Tasse Kaffee. Bruno spricht ihn an und erweist sich als eine Art Orakel, das über Daniels Leben alles weiß und dem Betroffenen auch erzählen will. Man denkt an den Film „Das Leben der Anderen“ zurück und kann nur staunen: In unserer Gesellschaft, wo die Freiheit an erster Stelle steht, gibt es viele andere Methoden, um in das Leben der Anderen sehr tief einzudringen. Eine der Ursachen von Brunos Benehmen ist der Neid auf die Menschen, die sich an denen bereichern, die durch die Gentrifizierung in den Großstädten ihr Haus verlieren. Das Geld, der Gott unserer Zeit, kauft die alten Häuser für kleine Summen auf und verkauft sie für Millionen an Personen wie Daniel wieder. In einem chaotischen Berlin kann man einen Moment der Ruhe und die Möglichkeit zum Nachdenken nur in der Kneipe und am Ende der Handlung, als alles bereits geschehen ist, finden.
Das Bild unserer Gesellschaft, das in diesem Film gezeichnet wird ist, wie auch im iranischen Film „Fractal“ und in „Honey Mood“, von einer Gesamtheit in sich geschlossener Personen, die sich nicht mehr in einem Ganzen wiedererkennen. In dieser Hinsicht ist das „Taormina Film Fest“ eine Art wichtiges Anleitungsbuch nach der Pandemie. Es ist als ob wir wieder erlernen müssen wie es vorher war, um wieder nach außen gerichtete Menschen zu werden. Eine ähnlich extreme Aufgabe haben die Darsteller des schönen italienischen Films „La terra dei figli“ (das Land der Kinder), der nicht im Wettbewerb steht, aber mit viel Beifall im antiken Theater vom Publikum gefeiert wurde. Die Handlung spielt in einer furchtbaren Zukunft in einer Lagune. Vereinzelt und ohne Spur von Menschlichkeit sind die Überlebenden, nach einer nicht näher definierten Katastrophe, auf der hoffnungslosen Suche auf ein Überleben. Ein Vater hat seinen einzigen Sohn nie umarmt, weil er sonst „schwach“ wird. Er hat aber nach seinem Tod ein Tagebuch hinterlassen, das der Sohn nicht lesen kann, weil er das nie gelernt hat. Von der Schönheit der Lagune hat der Regisseur Claudio Cupellini ein unheimliches Bild gezeichnet, das aber den Samen der Hoffnung mit dem Kontakt der Darsteller zur Natur nährt. Nach diesem Film stellt man sich viele Fragen: Was, wenn man keinen Impfstoff für das Covid gefunden hätte? Und was, wenn eine andere Pandemie käme? Wann könnten wir dann wieder in unsere Mitmenschen Vertrauen haben und wann würden wir uns wieder umarmen können?