Text und Fotos: Maren Recken
Ehrfurchtsvoll blicke ich auf das erste Stück der Weltcup-Piste von Bormio. „La Stelvio“: Mit einer Neigung von 63% der steilste Start aller Weltcupabfahrten. „Wenn kein Wettkampf stattfindet, wird dieses besonders steile Stück nicht als Piste präpariert“, erklärt Daniele Schena und setzt nach: „dann trauen sich nur die Könner unter den Freeridern dort hinunter“. Den anderen reicht, was Bormio an präparierten Pisten zu bieten hat: überwiegend rote, die andernorts durchaus als schwarz durchgehen könnten; vereinzelt blaue und eine schwarze. „Das Skigebiet ist anspruchsvoll, eher für Fortgeschrittene und Experten als für Anfänger geeignet“, bringt es Daniele auf den Punkt. Ich bin mit dem Hotelier und Ex-Skilehrer auf den Pisten oberhalb von Bormio unterwegs, das sich zusammen mit den benachbarten Skigebieten Santa Caterina Valfurva und Cima Piazzi – San Columbano mit einem gemeinsamen Skipass vermarktet, ein kostenfreier Shuttleservice zwischen den drei Skigebieten inklusive.
Alleine Bormio hat rund 50 Kilometer Piste und 14 Lifte zu bieten, zählt Daniele auf, als wir im Sessellift zum höchsten Punkt des Skigebiets am Cima Bianca fahren: Bormio 3000 nennt der sich. „Von hier ins Tal kann man auf dem Vertical Drop 1800 Meter am Stück durchbrettern, ohne auch noch einmal einen Zwischenlift nutzen zu müssen. Das ist ganz
schön lang und absolut einzigartig“ gerät Daniele Schena über das Highlight des Skigebiets ins Schwärmen. „Wenn Du das vormittags zwei- oder dreimal gemacht hast, bist Du reif für einen Nachmittag in der Therme“, prophezeit er, bevor es auf die Piste geht. Dank der jährlichen Weltcuprennen wird die Stelvio Piste bereits zu Saisonbeginn akribisch präpariert und die Talabfahrt an den Ortsrand bleibt bis zum Ende der Skisaison möglich, notfalls auf Kunstschnee. Bereits zweimal – 1985 und 2005 – wurden die Alpinen Skiweltmeisterschaften in Bormio ausgetragen. Jährlich findet auf der Stelvio der Alpine Skiweltcup der Herren statt. Die Olympischen Winterspiele 2026 sollen Bormio einmal mehr
ins Licht sportlicher Großereignisse rücken. „Eine tolle Gelegenheit, die Bormio als Wintersportort noch bekannter machen wird“, hofft Daniele auf den positiven Effekt weltweiter Fernsehübertragungen, wenn 2026 im Rahmen der Olympischen Winterspiele Mailand Cortina Skibergsteigen erstmals als olympische Disziplin in Bormio ausgetragen
wird und die Herren im Abfahrtsrennen auf der Stelvio um Medaillen kämpfen.
„Bormio ist wie ein kleines Dorf, mit seinen 4100 Einwohnern“, beschreibt Fremdenführerin Cecilia Giacomelli den Charakter des Bergstädtchens, während sie mich durch mittelalterliche Gassen und Gässchen, mir Bars, Restaurants und Geschäfte zeigt und mir erklärt weshalb Bormio so viele Kirchen hat und einst über 32 Türme verfügte. Nicht einmal eine Hand voll davon sind der Gemeinde am oberen Ende des Valtellina, wie das Veltlin auf Italienisch heißt, geblieben. Das rund 100 Kilometer lange Tal erstreckt sich entlang des Flusses Adda vom Comer See bis auf 1225 m auf die Hochebene von Bormio. Die Ortschaft mit dem Ortskern im alpenländischen Charme ist Teil des Stilfserjoch Nationalparks. Der strategisch günstige Lage zwischen den umgebenden Tälern und den nahegelegene Pässen wie Stilfser Joch und Gavia Pass verdankt Bormio seinen einstigen Reichtum, berichtet Cecilia von Zöllen, die im 16. Jahrhundert auf kostbare Stoffe, Wein aus dem Veltlin oder auf Salz aus Tirol erhoben wurden und Geld in die Stadt brachten. Wer heutzutage in Bormio einkaufen möchte, schlendert durch die Via Roma, die zum unteren Ende der Piazza Cavour führt. Auf der leicht ansteigenden Piazza liegt etwas weiter oben ein überdachter Platz aus dem 12. Jahrhundert, auf dem einst öffentliche Gerichtsverhandlungen stattfanden. Wegen der Dachform nennen ihn die Bewohner Bormios in ihrem Dialekt „Kuerc“: Deckel. Am Abend zaubert die blaue Stunde warmes Licht auf die Piazza Cavour. Die letzten Skifahrer tappen, die Ski über der Schulter, noch mit Skischuhen an den Füßen in Richtung
der Hotels. Oder machen es sich auf einen Aperitif vor einem Heitzpilz an einem der Tische im Freien gemütlich. Die La Stelvio und den Cima Bianca so lange im Blick, bis beide im nächtlichen Dunkel unsichtbar werden.
Präsent bleibt der Hausberg Bormios, das sich der vielen Thermalquellen wegen als Wellness Mountain vermarktet, trotzdem. Bereits die Römer entspannten, den Cima Bianca im Blick, am den Pisten gegenüberliegenden Berghang in den Aquae Burmiae. Noch heute speist das bis zu über 40 Grad heiße Mineralwasser aus neun Quellen die drei Thermen von Bormio. Die Badebecken aus Römerzeiten in der QC Terme Bagni Vecchi am Fuße der Stilfserjochstraße werden seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. genutzt. Die Therme Bagni Vecchi ist die älteste der drei Thermen. Ein besonderes Erlebnis dort: das Panoramaaußenbecken mit Blick auf den Cima Bianca und die rund 40 Meter in den Felsen reichende Grotte San Martino samt unterirdischem Badebecken. Ein Ausflug in die Belle Époque ist dagegen der
Besuch der QC Terme Bagni Nuovi, angegliedert an das Jugendstilhotel Grand Hotel Bagni Nuovi, das einzige 5-Sterne Haus im Ort. Modern, mit Fokus auf Familien lockt im Dreierbund der Thermalbäder die Bormio Terme. Wasserrutschen sorgen dort für Spaß, ein Adults-only-Bereich für ruhige Momente. Und eines ist sicher: langweilig wird es am Wellness Mountain zwischen Piste und Therme garantiert nicht.