“Die Sitze des samnitischen Theaters”
Pietrabbondante (Terra Italia) – Das Molise ist aufgrund seiner archäologischen Zeugnisse eine bedeutende Region Italiens: Bei Isernia hat man Funde gemacht, in denen Forscher mehr als 700.000 Jahre alten Spuren des ersten europäischen Menschen (homo aeserniensis) sehen. Die nur wenig überbaute Römerstadt Saepinum (Atilia bei Sepino) erstaunt durch ihren guten Erhaltungszustand und ihre ländlich-romantische Stimmung. In San Vincenzo al Volturno wird derzeit eine gewaltige Abtei aus der Zeit der Langobarden und Karls des Großen ausgegraben. Überall in der Region findet man Überreste, die auf kulturelle Entwicklungen seit den ältesten Epochen hinweisen.
Ein ganz besonderes Zeugnis für die religiöse und politische Kultur des Molise der Antike ist das in 1000 m Höhe oberhalb des Trigno-Tals gelegene Heiligtum von Pietrabbondante. Es wurde zwischen dem 4. und 1. Jahrhundert v.Chr. erbaut und war offensichtlich eine zentrale Kultstätte der von den Römer in den Samnitenkriegen (343-290 v.Chr.) geschlagenen und 82 v.Chr. von Sulla vernichteten italischen Völkerschaften. Die Samniten bildeten ein Konföderation aus verschiedenen Stämmen mit einer gemeinsamen Sprache und Schrift, dem Oskischen.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist Pietrabbondante Gegenstand der Forschung, seitdem der deutsche Historiker, demokratische Politiker und spätere Nobelpreisträger Theodor Mommsen hier die ersten Funde untersuchte und sich dabei mit dem Oskischen befasste. 1857 wurde der kleine Tempel A (aus dem 3. Jahrh. v. Chr.) und das samnitische Theater (2.-1. Jahrh. v.Chr.) ausgegraben. 1959 kam der große Tempel B (2. Jahrh. v. Chr.) ans Tageslicht. Ein weiterer, älterer Tempel aus dem 4. Jahrh. v.Chr. wird noch auf dem Gelände des großen Heiligtums von Pietrabbondate vermutet. Er soll von Hannibal zerstört worden sein.
Der rechteckige große Tempel B, ursprünglich aus Kalkstein errichtet und jetzt mit Travertin restauriert, stammt aus römischer Zeit. Eine oskische Inschrift an der linken Längswand verweist auf Caius Statius Clarus als Erbauer der Kultstätte. Diese steht auf einem 3,6 m hohen Podium in den Maßen 35,7 m x 23,0 m und hat nach römischem Vorbild einen Grundriss mit drei Haupträumen (3-Kammer-Cella, analog dem Kult der drei Götter Jupiter, Juno und Minerva im Jupitertempel auf dem römischen Kapitol) und einer vorgelagerten Plattform mit acht Säulen und zwei Opferaltären.
Das gut erhaltene hellenistische Theater liegt harmonisch in der Hauptachse des großen Tempels B, und zwar so, dass die Schauspieler von der Bühne aus auf diesen blickten. Die Zuschauer saßen in einem Halbrund mit dem Rücken zum Tempel. Vom Hintereingang des Theaters führte ein Gang zu den Treppenstufen des Podiums und über diese hinauf zum Tempel. Die einmalige Besonderheit dieses Theaters ist die „Ima cavea“, d.h. die drei ersten Sitzreihen vor der Bühne. Jede Sitzreihe in Halbkreisform besteht aus mehreren massiven Kalksteinblöcken, aus denen geschickte Steinmetzen Sitze mit anatomisch geformten Rückenlehnen gemeißelt haben, die sogar Wulste zur Stützung der Lendenwirbel besitzen. Monumentale Fabelwesen schließen jeden dieser Halbkreise links und rechts ab.
Das Molise ist auf die reichen Kulturschätze aus vorrömischer Zeit sehr stolz. Zahlreiche molisanische Ortschaften, z.B. Civitanova del Sannio, Forlí del Sannio und Mirabello Sannitico, halten in ihren Namen die samnitische Geschichte wach. In Pietrabbondante hat die Region hierfür eine erhabene Gedenkstätte, der in architektonischer und historischer Hinsicht eine besondere Aura innewohnt.
“Blick auf das antike Theater
von Pietrabbondante”