Terra Italia

In den Fresken von Giotto ist die Bibel eine Chronik von Tagesereignissen

Paolo Gianfelici

Nach achtmonatiger Restaurierung können die vom Genie der Moderne verwendeten Formen und Farben wieder besichtigt werden. Der revolutionäre Realismus des toskanischen Malers des 14. Jahrhunderts; die langen, jünglingshaften Wimpern Johannes des Täufers und die Brusthaare des gekreuzigten Christus.




Enrico Scrovegni übergibt der
Jungfrau Maria das Modell der Kapelle

Trimphbogen (Detail der Verkündigung)

Padua (Terra Italia) – Die restaurierten Fresken Giottos in der Cappella degli Scrovegni in Padua sind der Höhepunkt des bedeutendsten kulturtouristischen Ereignisses zu Ostern 2002. Nach achtmonatigen Arbeiten kann die Öffentlichkeit wieder die Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament bewundern, die im Sterben und der Auferstehung Christi und im Jüngsten Gericht gipfeln. Sie haben nun wieder ihre ursprüngliche Ausdruckskraft in Form und Farbe erhalten.

Der reichste Mann Paduas, der Bankier Enrico Scrovegni, bat im Jahre 1303 den berühmtesten Künstler Italiens, der bereits für den Papst in der Basilika San Francesco in Assisi und in San Giovanni im Lateran gearbeitet hatte, die Decke und die Wände der Kapelle der Familie auszumalen. Dabei dachte er bestimmt nicht daran, damit die Geburtsurkunde der modernen Malerei auszustellen. Giotto entdeckte in Padua die realistische Darstellungsweise von Handlungen, moderne Raumvorstellungen und bewirkte damit eine Revolution, die der von Picasso im 20. Jahrhundert gleichkommt. Vor Giotto hatte sich die Malkunst auf griechisch-byzantinische Art ausgedrückt, mit ihm jedoch beginnt sie die Sprachen der neuen europäischen Völker zu sprechen. Außer von klassischen Skulpturen erhielt Giotto in der Tat seine Inspirationen von Miniaturen jenseits der Alpen.

Man muss schon nach Padua reisen, um die gleichen Emotionen wie die Zeitgenossen Giottos zu verspüren, als sie die Decke und die realistischen Körper der dargestellten Personen betrachteten, die sich in einer ebenso realistischen Weise bewegen und leben. Die Fresken der Scrovegni-Kapelle sind eine Serie von Alltagsgeschehnissen: das schmerzgequälte Antlitz der Mutter beim Mord an den „Unschuldigen Kindern“, die Umarmung von Joachim und Anna als Höhepunkt einer Liebe ohne Zeitbegrenzung. Oder Einzelheiten, auf die man nicht gefasst ist: die äußerst langen (eines Epheben würdigen) Wimpern Johannes des Täufers; die Brusthaare des gekreuzigten Christus, die zerrissene Kleidung eines der Soldaten beim Kindermord. Der Hauch der Wahrheit weht über allen Geschichten Giottos. Seine Gemälde greifen um 350 Jahre dem Prinzip des Philosophen Antonio Spinoza vor: Gut ist, was das Wissen erweitert; schlecht ist, was es einschränkt.

Jenes einzigartige Denkmal der europäischen Kunstgeschichte hatte ein sehr bewegtes Leben. Es hat wunderbarerweise über die Jahrhunderte die Vernachlässigung und den Einsturz der umstehenden Gebäude überstanden. Während des Zweiten Weltkriegs explodierte eine Bombe in wenigen zehn Metern Entfernung. Ein Konservierungsversuch in den sechziger Jahren hat an den Fresken eher Schaden angerichtet als Vorteile zu bringen. Endlich wurde nun eine respektvolle Renovierung durchgeführt, ohne die Fresken zu vergewaltigen: Modernste Techniken wurden ausprobiert, von Email bis zu raffiniertesten Harzen. Allerdings liegt Feuchtigkeit, die Hauptgefahr für die Fresken, weiterhin beständig auf der Lauer.

Aus diesem Grund sind die der Öffentlichkeit vorbehaltenen Besichtigungen streng reglementiert: Sie sind täglich von 9.00 bis 19.00 Uhr für Gruppen von 25 Personen möglich, freilich ausschließlich nach Voranmeldung (Tel.: +39-040-2010020: Internet: www.cappelladegliscrovegni.it). Sie dauern 15 Minuten nach einem vorherigen Aufenthalt von 15 Minuter in einem technologisch ausgestatteten Vorraum, wo man obligatorisch verbleiben muss, um Temperatur- und Feuchtigkeitsunterschiede auszugleichen.

Dieses kleine Opfer lohnt die Mühe, um sehen zu können, und sei es auch nur für eine Zeitspanne von wenigen Minuten, wie ein Künstler vor 700 Jahren seine Mitmenschen in einer neuen und revolutionären Raum- und Mentalitätsperspektive beobachtet hat.


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