Terra Italia

Der “schöne San Vetor” bei Feltre

Sergio Sacco

Unweit des Dorfs Anzù, etwa 4 km von Feltre (Provinz Belluno) entfernt,

überragt eine altehrwürdige, eindrucksvolle Kirche, die Ruhestätte der

Märtyrer Viktor und Corona, das Tal des Sonna-Sturzbachs. Das Heiligtum

liegt auf dem Berg Miesna und ist über den alten Pfad der “Kapitelle”

erreichbar, an dessen Rand sechs Kapellen aus dem 16. Jahrh. stehen, die

zur “Esplanade des Engels” geleiten. Eine im 18. Jahrh. nach Plänen von

Giuseppe Segusini aus Feltre erbaute Freitreppe führt schließlich zur

Pilgerstätte in einer Höhe von 344 m über dem Meer.

Die Kirche mit ihrem Unterbau aus Kalksteinblöcken wurde von Mönchen aus

der Umgebung von Como im Stil der Romanik erbaut (Baubeginn im Jahre 1096)

und 1101 von Bischof Arpo aus Feltre geweiht. Insgesamt hat das Bauwerk

freilich ein orientalisches Aussehen, so bei den dekorativen

Marmorverzierungen des Martyriums. Es handelt sich um eine “arme” Version

des byzantinischen “Quincunx”, d.h. um eine Kirche mit einer hohen

zentralen und vier kleineren Kuppeln an den Ecken, die sich in ein Schema

aus neun Feldern einfügen. Im Zentrum dominiert ein hoher Kreuzbogen, von

dem aus sich die zwei Tonnenbögen des Querschiffs und die zwei Kreuzbögen

des Hauptschiffs öffnen. Hinzu kommen vier kleine Eckkreuze, der Nartex

und das Martyrium. Die Gliederung des Bauwerks wird von vier massigen

Pfeilern unterstrichen. Die drei Schiffe zeigen dagegen einen romanischen

Charakter, ebenso das Westwerk mit seinen zwei wuchtigen Glockentürmen.

Die Kapitelle des Martyriums, in dem die Gebeine der Heiligen ruhen,

wurden von byzantinischen Künstlern bearbeitet, vielleicht von der

Bauhütte von San Marco zu Venedig. Die zwei zentralen Kapitelle entstammen

dagegen einem Ambiente unter islamischem Einfluss und zeigen Zierbänder in

kufischer Schrift.

Der in der Segusini-Sakristei (2. Hälfte des 19. Jahrh.) stehende

Sarkophag des Giovanni Da Vidor wird auf das Jahr 1096 datiert. Er besitzt

zwei prächtige Kapitelle, die vom Wind bewegte Akantus-Blätter darstellen.

Dabei handelt es sich um Abbruch-Material aus griechischem Marmor, das auf

das 6. Jahrh. datierbar ist. Derselben Periode gehört der Märtyrerschrein

an (der dem des hl. Virgilius im Dom von Trient gleicht). Im Jahre 1440

stellte man den Heiligenschrein auf vier Säulen und brachte gleichzeitig

ein schönes Basrelief an, das den hingestreckten Körper von St. Viktor

zeigt (vermutlich aus der Werkstatt des Venezianers Bartolomeo Bon). Auf

die gleichen Jahre geht der in spätgotisch-venezianischem Stil ausgeführte

Tabernakel zurück, der die Form des Heiligen Grabs hat (wahrscheinlich ein

Werk von Antonio da Marcador). Im Laufe des 14. Jahrh. vergrößerte man das

Südportal der Kirche und errichtete den Bischofsthron. Aus der 1. Hälfte

des 16. Jahrh. stammt das Taufbecken.

Schon bald nach der Weihe plante man, das gesamte Innere der Gotteshauses

auszumalen. Die ersten Fresken am Triumphbogen stammen aus der ottonischen

Periode (12. Jahrh.) und zeigen die Apostelfürsten Petrus und Paulus. Aus

dem 13. Jahrh. folgen der hl. Christophoros, die hl. Agnes und der hl.

Franziskus (erste Darstellung der Armen von Assisi in Hoch-Venetien). Zwei

Lünetten (14. Jahrh.) oberhalb des Hauptaltars stellen das Weltgericht,

eine Schmerzhafte Muttergottes und das Letzte Abendmahl dar; dieses Werk

eines unbekannten Schülers von Giotto wurde nach der Vollendung der

Scrovegni-Kapelle (Padua; 1. Hälfte des 14. Jahrh.) geschaffen. Auf die

Mitte dieses Jahrhunderts datiert man auch das Letzte Abendmahl im

Südschiff, das ein Fest-Bankett der damaligen Gesellschaft darstellt. Eine

besondere Delikatesse waren offensichtlich Flusskrebse, die über die

gesamte Tafel verstreut sind.

Zwei illustre Künstler aus dem 15. Jahrh., Tommaso da Modena und Vitale da

Bologna (bzw. deren Schüler), haben sowohl den oberen Teil des Martyriums

als auch den des nördlichen Querschiffs ausgemalt. Tommaso malte die vier

Kirchenlehrer, die hl. Märtyrer und die Engel des Triumphbogens und

stellte den Heiligenschrein unter einen mit den Symbolen der vier

Evangelisten verzierten Sternenhimmel. Vitale stellte das Martyrium der

Heiligen und die Legende von der Überführung ihrer Reliquien in einem

Gemäldezyklus dar. Im Nordschiff sieht man schließlich einen stark

beschädigten Zyklus aus dem 15. Jahrh.: St. Viktor ist als Soldat

gekleidet; er führt das Wappen von Feltre und die Siegespalme mit sich.

Die hl. Corona trägt das Kleid einer Jungfrau und hält die Märtyrerkrone

in der Hand.

Auf einer Bleitafel aus dem 7.-8. Jahrh., die im Heiligenschrein

eingeschlossen ist, erinnert Bischof Solonio von Ceronia daran, dass die

Leichname der Heiligen von seinem Vorgänger, dem Märtyrer Theodorus, im

Jahre 205 n. Chr. von Syrien, dem Ort des Martyriums, nach Zypern

überführt wurden. Von dort gelangten die Körper über Venedig

wahrscheinlich zu Beginn des 9. Jahrhunderts nach Feltre. Fromme Legenden

berichten von den besonderen Ereignissen bei der Ankunft der Heiligen am

Berg Miesna. Als der Wagen mit den Reliquien das Dorf Anzù erreicht hatte,

waren die beiden Zugpferde durch nichts zum Weiterfahren zu bewegen, um

die Reliquien zur Kathedrale zu bringen, wo der Bischof und die

Bürgerschaft ungeduldig warteten. Da trat eine alte Frau hervor und

offenbarte den Umstehenden, dass Viktor ihr im Schlafe aufgetragen habe,

ihre beiden Jungtiere dem Fuhrwerk vorzuspannen; diese würden die

Reliquien dorthin bringen, wo die Heiligen beschlossen hatten, in den

kommenden Jahrhunderten zu ruhen. Auch heute noch sieht man am zweiten der

sechs Kapitelle ein Felsstück mit seltsamen Aushöhlungen und darüber auf

einem Wandfresko einen Wagen, der den Berg hinauffährt. Seither wachen die

hl. Viktor und Corona vom “schönen San Vetor” aus über Feltre. Der

Jahrestag am 14. Mai erinnert an das Martyrium der Heiligen, während die

Überführung der Reliquien am 18. September, dem “San Vettoret”-Fest,

gefeiert wird.

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