Text und Fotos: Paolo Gianfelici
Brescia – Der Komplex von Santa Giulia ist eine erstaunliche Schatulle, die Tausende von Jahren an Geschichte enthält. Ich laufe den antiken Decumanus des römischen Brixia entlang und bin sehr beeindruckt von den hohen Säulen und dem Giebel des Kapitols. Aber das ist nur der Anfang: Wenn man ein paar hundert Meter weitergeht und das Museum betritt, entdeckt man, dass dieser Ort fast im Verborgenen prächtige Mosaike, Fresken und seltene Funde aufbewahrt.
Während der napoleonischen (und später der österreichischen) Besatzung wurde das gesamte Gebäude als Kaserne genutzt und dann bis vor fünfzig Jahren vernachlässigt, vielleicht sogar zur Gleichgültigkeit der Einwohner der Stadt. Ein einheimischer Taxifahrer gestand mir: „Wir Brescianer mussten an die Wirtschaft und die Arbeit in unseren Industrien denken, der Rest, darunter leider auch Kultur und Archäologie, zählte wenig“. Brescia ist (zusammen mit Bergamo) die italienische Kulturhauptstadt 2023 und hat mit der kürzlich eröffneten Ausstellung „Il Pugile e la Vittoria“ (Der Faustkämpfer und der Sieg) und mit anderen wichtigen Veranstaltungen, die bereits realisiert wurden und in Vorbereitung sind, bewiesen, dass die Stadt auf nationaler Ebene eine sehr wichtige Rolle spielt.
Die Besichtigung beginnt im Untergeschoss des Klosterkomplexes: die ersten Dörfer in der Gegend, die Gründung von kleinen Siedlungen in der Eisenzeit. Dann die Römerzeit, die durch zahlreiche Artefakte vertreten ist, darunter die bauchigen Ölamphoren aus Kreta und die schlankeren Amphoren, die Weine aus Zypern enthielten. Und schließlich die Amphoren, die Garum enthielten, die beliebte römische Soße aus Fisch und Gewürzen, die auf langen Reisen zu Land und zu Wasser mit größter Sorgfalt verschlossen werden musste.
Nach einem Überblick über Essen, Wein und vieles mehr (die Sammlung von antikes Glas ist fantastisch), kann man die römischen Domus bewundern, in denen die Patrizier lebten, die von all diesem Luxus profitierten. Sie befinden sich in einem Gebiet von Brescia, das Ortaglia genannt wird, weil es einst mit Gemüsegärten bedeckt war. Bei den Domus von Ortaglia handelt es sich um zwei Patrizierhäuser, die reich an polychromen Mosaiken und bemalten Wänden sind und vom 1. bis zum 3. nachchristlichen Jahrhundert bewohnt waren. In der Mitte des Speisesaals befindet sich ein wunderschönes polychromes Mosaik, das Dionysos darstellt, wie er den Durst eines Panthers löscht.
Das außergewöhnlichste Werk von harmonischer Schönheit im gesamten Museum ist der Geflügelte Sieg. Fantastisch in ihrer Ausdruckskraft sind die kaiserlichen Porträts aus vergoldeter Bronze. Im Hochmittelalter ließ der Langobardenkönig Desiderius ein Nonnenkloster errichten, das bis zur Auflösung der kirchlichen Orden in der napoleonischen Ära für die Bewahrung des Ortes sorgte. Die Kirche San Salvatore ist reich an Gemälden, Dekorationen und Säulen mit unterschiedlich geformten Kapitellen. In der Mitte der Kirche befindet sich eine zeitgenössische Installation von Fabrizio Plessi: ein riesiger goldener Ring. Er wird von Klängen und Reflexionen durchzogen, die an den Wasserkreislauf denken lassen und diesem alten und feierlichen Ort Vitalität und Energie verleihen. Mein Besuch des Komplexes Santa Giulia ist zu Ende, aber morgen werde ich noch in Brescia sein, und ich denke, ich werde das Museum wieder besichtigen.