Text und Fotos: Paolo Gianfelici
Von der Hauptstraße biegt ein kleinerer Weg nach oben. Sanft steigt er durch eine ruhige Hügellandschaft mit Weinbergen, winzigen Wäldern und kleinen Dörfern. Ich befinde mich in Piemont, in einer Gegend, die sich zwischen den Städten Novi Ligure und Tortona erstreckt. Letztere hat diesen malerischen Hügeln auch den Namen „Colli Tortonesi“ geliehen. Die Menschen, die hier leben und arbeiten, sind aber noch immer auf der Suche nach einem Ausdruck, der ihr schönes Gebiet besser kennzeichnen kann. Der Name müsste, aus meiner Sicht, die Begriffe Harmonie,
ländlicher Kontakt mit der Natur und Echtheit beinhalten. Das Dorf Carezzano liegt auf einer Hochebene: Die Mauern eines antiken Palazzo geben den anderen Häusern ein Hauch ländlicher Eleganz. Die Kirche, die das noble Gebäude in Besitz hatte, steht etwas weiter weg. Ich suche ein Agritourismus, das gar nicht so leicht zu finden ist. Ein steinernes Tor führt in einen Innenhof. Die Szene, auf die ich blicke, bringt mich mit einer Zeitmaschine zurück in die Vergangenheit: Eine alte Dame sitzt auf einer Bank vor einem Haus, das an einen Hühnerstall grenzt. Die Hühner schauen sich ruhig in dieser Nachmittagsstunde um, und der Rest der Welt scheint von diesem Mikrokosmos ausgeschlossen geblieben zu sein. In „La Morella“ lebt man wie die Bauern eines Bilderbuches. Die Küche befindet sich im Erdgeschoss, und eine kleine Treppe bringt einen nach oben, wo sich zwei Zimmer befinden, die alte, steinerne Mauern mit etwas Stolz zeigen. Zwei kleine Lampen auf den Nachttischen sind die einzigen Lichtquellen am Abend, und der alte Fernseher im Nebenzimmer gibt keinen Funken Leben von sich. Internet- und Handyverbindungen stehen in „La Morella“ noch im Buch der Zukunft. Die Hühner gehen früh ins Bett.
Sanft fährt man auf und ab von Carezzano in Richtung Monleale. Dieses Dorf erkennt man von Weitem: Der ältere Teil samt Kirchturm liegt auf der Spitze eines Hügels. Hier funktioniert die Handyvernetzung gut. Walter Massa, leidenschaftlicher Weinproduzent, hat mich schon drei oder vier Mal angerufen. „Das Licht ist jetzt in den Weinbergen ideal. Wo bleibst du denn?“. Ich parke das Auto vor seinem Haus, das auch ein Weinkeller ist, direkt am Hauptplatz von Monleale und klingle. Niemand meldet sich für ein paar Minuten. Ein Fenster öffnet sich, und eine junge Dame tritt auf den Balkon. „Walter ist in den Weinbergen. Da vorne links. Passen sie aber auf, wenn er seinen Jeep fährt, ist er manchmal zu hastig“. Walter wartet auf einer Terrasse mit Blick auf die Weinberge. Das Licht ist, wie er am Telefon gesagt hatte, nahezu perfekt: Eine rosafarbene Wolkendecke erstreckt sich über seinem Besitz, den wir gleich auf dem alten Jeep zu erkunden anfangen. Walter widmet seine Zeit, um guten Wein zu produzieren, und die Reben schenken ihm ein exzellentes Produkt. Die Vigneti Massa produzieren unter seiner Direktion – und von der autochthonen Sorte Timorasso – einen Weißwein, der jüngst mit dem Etikett „Costa del Vento“ die angesehene Anerkennung der „Drei Gläser“ im Gambero Rosso, dem Weinführer Italiens, für das Jahr 2015 errungen hat. Aber wie Walter Massa sagt, „eine Weinlese ist wie Kinder zu bekommen: Man muss nehmen, was uns die Natur schenkt“. Deshalb schaut er sich seine Reben vor der Weinlese genau an, probiert hier und da eine Weintraube und schließt sich später im Keller ein, um seinen Wein zu verarbeiten und das Endprodukt in Flaschen abzufüllen. Seine Lebensphilosophie kennt kein Zögern, und in einer Gesellschaft, die oft auf vorübergehenden Moden basiert, ist Monleale ein Anhaltspunkt des Geschmackes.
Nur ein paar Kilometer von Monleale entfernt erreichen wir später das Restaurant „Pomodolce“. Walter hat gleich ein paar Flaschen seiner Weine zur Degustation mitgebracht, aber da man ihn hier gut kennt, wird die Tatsache von den Pomodolce-Weinproduzenten mit einem Lächeln angesehen. Im Restaurant spielt sich vor jedem Essen ein Ritual ab. Welche ist die richtige Geste, um die exzellente Salami „Nobile di Giarolo“ in Scheiben zu schneiden? Der ältere Hausherr hat kein Zögern und „fliegt“ mit dem Messer diagonal durch das noble, getrocknete und leckere Schweinefleisch. Die Pomodolce-Gerichte sind delikat und zur gleichen Zeit voller Geschmack, wie das zarte Kalbfleisch mit Trüffeln und lokalem Montebore-Käse.
Für diejenige, die in der gastronomischen Exzellenz leben und arbeiten, ist es kein Problem zu zeigen, wie man arbeitet. Der Salamiproduzent Ennio Mutti begleitet mich am nächsten Tag durch die verschiedenen Phasen, die zum guten Endprodukt führen. Den Nobile di Giarolo kann man auch in seinem Geschäft kaufen. Der kleine Keller, wo die Salami trocknen, sieht wie eine Schatztruhe aus: In diesem Teil von Piemont ist die Arbeit eine geschätzte Ware. Auch Weinproduzent Daglio ist auf seine Reben sehr stolz. Eine Visite durch die Weinberge ist fast wie ein Besuch in einem Museum. Jede Traube ist so schön, dass man sie gleich in ein Stillleben malen könnte.
Die Verbindung zu jenem Maler, dessen berühmtestes Bild gerade eine Gruppe von Bauern darstellt, ist leicht zu machen. Pellizza da Volpedo lebte im kleinen, malerischen Dorf Volpedo, aber einige seiner Werke kann man auch in der schönen „Pinacoteca del Divisionismo“ in Tortona bewundern. Pellizza war Sohn eines kleinen Landbesitzers und betrachtete die Arbeit auf den Feldern. Sein Bild „Il Quarto Stato“ ist die Darstellung einer Bauernbewegung und zum Symbol der Arbeiterrechte im 20. Jahrhundert geworden. Ein Besuch in Volpedo gibt die Möglichkeit, den genauen Platz zu sehen, wo Pellizza seine Modelle (die echten Bauern waren) aufstellte. Ein Spaziergang durch die kleine Stadt ist mit anderen Stellen verbunden, die den Maler inspirierten. Ein Museum und sein schönes Studio, wo er im vollen Licht arbeitete, runden die Bekanntschaft mit dem noch jung verstorbenen Maler ab. Doch Volpedo sollte man nicht nur der Kunst wegen besichtigen: Hier werden die besten Pfirsiche Italiens produziert, und im Sommer ist deren Duft eine Poesie, die die volle Harmonie des Territoriums enthält.
Info:
Strada del Vino e dei Sapori dei Colli Tortonesi Piazza Arzano c/o Palazzo Guidobonor 15057 Tortona AL 0131-868940 www.stradacollitortonesi.com Agriturismo La Morella Carezzano www.lamorella-biologica.it Weingut Fratelli Massa Piazza Capsoni 10 – Monleale vignetimassa@libero.it Azienda Agricola Daglio Costa Vescovato www.vignetidaglio.com Azienda Agricola Pomodolce Montemarzino www.pomodolce.it Ennio Mutti Frazione Baracca – Sarezzano www.salamenobilegiarolo.com La Pinacoteca Fondazione Cassa di Risparmio di Tortona Tortona www.fondazionecrtortona.it/index.php/la-pinacoteca Museo – Studio di Giuseppe Pellizza da Volpedo Volpedo www.pellizza.it