Text und Fotos: Paolo Gianfelici
Dritter Tag
9.00 Uhr – Kurs auf San Marco
Am zweiten Tag (der dritte nach meiner Ankunft in Casale sul Sile), fahren wir von der Insel Sant’Erasmo in Richtung San Marco. Ich stehe am Steuer und verstecke meine Gefühle nicht. Diese Gewässer der Lagune werden von Vaporetti und Motorbooten sehr frequentiert. Das größte Risiko für unerfahrene Bootfahrer besteht darin, ein falsches Manöver durchzuführen und in einer Sandbank zu enden. Glücklicherweise steht Carlo beruhigend da: „Folge den „briccole“ (den Holzpfeilen, die die Kanäle in der Lagune säumen) mit einem Abstand von mindestens fünfzehn Metern. Wenn wir ein anderes Boot treffen, das in die entgegengesetzte Richtung kommt, fahre geradeaus! Kollisionen treten häufig auf, weil die beiden Boote im letzten Moment den Kurs wechseln.“ Wir kommen an der Isola delle Vignole vorbei. Die Piazza San Marco rückt immer näher. Unser Boot empfängt die Schockwelle der Schnellboote, die die Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht einhalten. „Drei Viertel der Venezianer wissen nicht, wie man ein Boot gut versorgt“, sagt Carlo.
Vor der Piazza San Marco gebe ich ihm das Ruder. Ich möchte nicht auf den Genuss eines langen und intensiven Blicks auf die außergewöhnliche und undefinierbare Schönheit dieser Stadt verzichten.
Wir umrunden Murano, ohne anzuhalten, und fahren dann in Richtung Mazzorbo. Die Kuppeln der Kirchen von Venedig entfernen sich, und wir befinden uns wieder inmitten der Natur: Vögel, Sandbänke, kleine Inseln, Wasserpflanzen. „Eine natürliche Welt“, stellt Carlo fest, „aber eine Konsequenz der Regulierung der Gewässer der Lagune durch die Menschen, die sonst jetzt völlig ausgetrocknet wäre.”
13.00 – Der „ummauerte“ Weinberg
Das Mittagessen besteht aus Käse, Salami und gesalzenen „bossolà“ (Knabbergebäck in Form eines Rings). Danach klettere ich über den Kai von Mazzorbo, um den „ummauerten Weinberg” zu besichtigen. Die mittelalterlichen Mauern umringen die alten Dorona-Reben von Venedig, den Gemüsegarten und die Beete des Weinguts Venissa. Die Wiesen sind mit Gänseblümchen und blühenden Obstbäumen übersät. Die prächtigen violetten Artischocken zeichnen sich auf dem Feld als dekorative Pflanzen ab. Sie heißen castraure und sind so klein und zart, dass sie roh verzehrt werden können. Der „ummauerte“ Weinberg ist ein Ort des Bewunderns, voller Frieden, Stille, Harmonie und sanfter Farben, worüber der Glockenturm der Kirche San Michele Arcangelo aus dem vierzehnten Jahrhundert wacht.
Die Brücke über den Kanal, die von Mazzorbo nach Burano führt, bringt mich in eine ganz andere Atmosphäre. Die Fassaden der Häuser von Burano sind in kräftigen Farben gestrichen: Blau, Ziegelrot, Ocker, Grün, Gelb. Eine Menge Touristen, in ständiger Bewegung wie auf den Straßen von Venedig, sind sehr damit beschäftigt, Fotos zu machen anstatt das Ambiente zu betrachten. Ich beschließe, später zurückzukehren, um diesen schönen Ort in aller Ruhe zu genießen.
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16.00 – Die „Vorfahrin“ von Venedig
Torcello befindet sich sehr nahe bei Burano, es gibt kaum Verkehr. Die Anlegestelle ist in der Nähe des großen und imposanten Glockenturms aus dem Jahre 1000. Diese Insel ist die „Vorfahrin“ von Venedig. Hierhin zog sich die römische Bevölkerung zur Zeit der barbarischen Invasionen zurück und gründete eine Stadt mit mehr als 20.000 Einwohnern, die später verlassen wurde. Heute ist die Insel Torcello ein großes Landwirtschafts- und Lagunengebiet mit sehr wenigen Einwohnern. Die Natur, die die mittelalterlichen Denkmäler umringt, macht es noch faszinierender. Ich gehe auf einem schlammigen Weg entlang eines Kanals: Aus dieser Perspektive erscheinen der Glockenturm, die Kathedrale von Santa Maria Assunta und die Kirche von Santa Fosca als herrliche „Funde“ einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Wie war Venedig, bevor es Venedig wurde?
20.00 – Abendessen auf dem Deck
Carlos Mutter hat ein tolles Abendessen vorbereitet: Lasagne mit Radicchio, die leicht und lecker sind, und Stockfisch auf venezianische Art. Es ist der letzte Abend, wir sind alle auf dem Deck eines Bootes versammelt. Morgen früh kehren wir zur Basis der Hausboote in Casale sul Sile zurück.
Die Nacht ist kühl und ruhig. Ich mache mich auf den Weg nach Burano. Die Farben der Häuser, die der Stadt tagsüber ein spektakuläres Aussehen verleihen, werden im Schatten nicht mehr unterschieden. Die Formensprache ist sehr harmonisch. Die Stille ist fast surreal. Ich frage mich, ob ich vor der Illustration eines Bilderbuchs stehe. Die Lagune lässt mich träumen.
Vierter Tag – Die Wildente
Am Sonntagmorgen ist am Ufer des Flusses Sile viel los. Ich sehe viele Fischer und Radfahrer. Auf der Wasserstraße ist dagegen alles ruhig, außer einigen eigenartigen Flößen, die von Pfadfindern geführt werden. Wir betreten eine Sperre. Der Wächter lädt uns ein, ganz still zu sein: Eine Wildente brütet ihre Eier auf einem Grasbüschel in einer Ecke, die nur einige Zentimeter vor dem Durchgang unserer Boote entfernt ist.
Info:
Houseboat bietet Bootsurlaub auf navigierbare Kanäle, um zum Beispiel die Schätze der Region Venetien zu erkunden. Man kann die Boote mieten; es ist kein Bootsführerschein erforderlich