Text und Fotos: TiDPress
Matera – Viele Leute haben sich am Abend auf dem zentralen Platz von Matera versammelt, doch sie gehen nicht spazieren, wie es sich hier im Sommer gehört. Sie stehen und warten. Punkt neun Uhr wird die „luminarie“, die Festbeleuchtung, angeschaltet. Die Musik ist das „Ave Maria“, da das Fest „della Bruna“ der gleichnamige Madonna zu Ehren gefeiert wird. Doch gleich im Anschluss tönt aus den Lautsprechern, zu einem spektakulären Lichtspiel, „An die Freude“. Europa ist nun in Matera auch zwischen die Bewohner tief eingedrungen. Ich kann nicht meine persönliche Freude leugnen: Es ist vielleicht nur ein Moment, aber das europäische Zugehörigkeitsgefühl ist groß. Es ist nicht leicht, gerade in dieser historischen Periode, die europäische Kulturhauptstadt 2019 zu sein. Vor einige Stunden hatte ich die Ausstellung „Memori“ besichtigt, ein kompliziertes Projekt, das alle möglichen Objekte, die an den Küsten des Mittelmeers vorgefunden worden sind, zeigt und habe dabei gedacht: Man spricht viel, aber man bleibt irgendwie in einer graue Zone. Parallelen zu Europa tauchen sofort auf. Doch Matera hat eine Trumpfkarte: es ist einfach wunderschön. Eigentlich bräuchte es nichts anderes als sich selbst, um allen Besuchern tiefe Emotionen zu bescheren.
Die „Sassi“, die in den Fels gehauenen Häuser, scheinen vom Aussichtspunkt direkt vor der Stadt, im „Parco della Murgia Materana“, mit weit geöffnete „Augen“ all ihre Verwunderung auszudrücken. Vor den vielen Touristen, die fasziniert auf diese Aussicht blicken und vielleicht auch vor ihrer Stadt. Nach einem Spaziergang durch das kahle, besondere Gebiet entschied ich mich, den „Parco delle cave della palomba“ zu besichtigen. In diesem ehemaligen Tuffsteinbruch sind bereits die hohen, tief eingeritzten Wände ein Kunstwerk. Dazu kommen zeitgenössische Skulpturen aus Stein und Eisen, die den Tuffsteinbruch zum Freilichtmuseum machen. Am späten Nachmittag wird der Besuch dort von einem Vogelgezwitscher-Konzert begleitet und da einige der Skulpturen gerade Vögel als Subjekt haben, scheint das extra organisiert zu sein. Im neu gestalten Ausstellungsraum ist die I-DEA, ein vielseitiges Programm, das Objekte aus den Archiven der Region und Videos zeigt.
Matera bereitet sich auf den Abend vor: Im alten Viertel der „Sassi“, wo sich jetzt auch schöne Hotels und Restaurants befinden, gehen kleine gelbe Lichter an. Ich lasse mich einfach „an der Hand nehmen“ und steige vorsichtig die steinerne Treppe hinunter. Matera ist wie eine warme Umarmung, die das Herz und den Verstand beruhigt. Seine Schönheit besteht aus archaische Formen, einer angeborenen Harmonie und einer magischen Stille. Durch kleine, sich schlängelnde Gassen spaziere ich ohne Ziel, nur um den ganzen Zauber einzuatmen. Irgendwann bringt mich mein Weg wieder auf modernere und belebte Straßen. Vor einer Kirche spielen einige Kinder mit viel Lärm. Ich trete in San Giovanni Battista ein, nur um festzustellen, dass die Kirchen in Matera nicht nur eine wunderschöne Fassade haben. Ich blicke auf die steinerne Decke und habe den Eindruck, das Gewölbe würde sich in einem sanften Tanz hin und her bewegen. Wenn ich eine zusätzliche Bestätigung suchte, wie lebendig diese Stadt ist, habe ich sie auch in meiner Fantasie gefunden.
Am nächsten Morgen heben sich alle architektonische Einzelheiten von Kirchen und Palazzi gegen einen klaren, blauen Himmel auf. Es sind aber wieder die „Sassi“, die meinerseits die ganze Faszination ausdrücken. Von jedem Blickwinkel aus ist die Gesamtheit perfekt. Wieder spaziere ich nach unten und komme am Aussichtspunkt auf die „gravina“, die tief in der Natur eingebettete Schlucht neben der Kirche von San Pietro Caveoso. Im Stein wachsen Büschel von wilden Kaperpflanzen, aus deren Blüten wie seidene Fäden herausquellen. Man kann lange auf diese spröde Natur schauen, aber es lohnt sich auch die Kirche zu besichtigen. Auch dieses Mal lasse ich den Blick an die Decke schweifen: hier sind schöne bemalte Holzbalken. Viele Touristen besichtigen die „Casa grotta“, das letzte Haus im Stein, das von der darin wohnende Familie in der Mitte der 50er Jahre verlassen wurde. Ich bin vom kleinen Raum, den man mit den Tiere teilte, beeindruckt, aber noch viel mehr von den Gesichtern der Inhaber, die man auf schwarzweiß Fotos am Spiegel über der Kommode sehen kann. Sie sind voller Würde, als ob sie das steinerne Wunder ihrer Stadt bereits unter diesen höchst schwierigen Lebensbedingungen mit den Augen der Zukunft sehen konnten.
Info:
Das Programm von „Matera 2019 Open Future“ ist sehr umfangreich und wird immer wieder durch neue Initiativen bereichert. Besonders interessant ist die Ausstellung „Rinascimento visto da Sud“ (bis 19. August im Palazzo Lanfranchi): eine spannende Reise durch den Austausch zwischen Künstlern von Ideen und neuen Perspektiven der Kunst der Renaissance mit Schwerpunkt auf dem Süden Italiens und dem Mittelmeerraum
https://www.matera-basilicata2019.it/it/programma/temi/riflessioni-e-connessioni/1366-rinascimento-visto-da-sud.html
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