Text und Fotos: Paolo Gianfelici
Rom – Im Zentrum der Stadt sind die Straßen am späten Nachmittag eines Maisamstags fast leer. Eine dicke Wolkenschicht umhüllt Plätze, Paläste, Brunnen sowie die seltenen Passanten und schafft eine bleierne, stille, surreal beklemmende Atmosphäre. Die großen barocken Fassaden Roms strahlen keine Freude und Schönheit mehr aus. Es ist Zeit nach oben zu schauen und nach dem zu suchen, was dem Auge normalerweise entgeht.
Die Stadt ist ein antiker Zoo aus Stein: der Kopf eines Hirsches auf dem Dach einer Kirche, eine Katze, die über die Fassade eines Gebäudes läuft, ein Löwe, der ein Wildschwein an der Ecke zweier Straßen verschlingt. Ich beginne die Route von der Via dell’Orso aus: Zwei Basreliefs aus römischer Zeit, ein Original und eine nach einem Diebstahl angefertigte Kopie, stellen den König der Tiere dar, während dieser eine Antilope und ein Wildschwein beißt. Ich gehe nach rechts weiter, auf der Via della Scrofa. Hier steht das Fragment einer antiken Skulptur. Eine Sau, die das Symbol der Großen Mutter der Fruchtbarkeit in der klassischen Welt darstellt.
Auf der Piazza della Minerva strahlt der Elefant von Gian Lorenzo Bernini an diesem grauen Frühlingsnachmittag Zärtlichkeit und Sympathie aus. Es ist kein Zufall, dass es die Lieblingsstatue der Kinder bei der geführten Rom-Route „Der Zoo der Wunder“ ist. In diesem Sinne scheinen auch die Delphine im Brunnen auf der Piazza Colonna von einem Walt Disney-Zeichner entworfen worden sein. Insbesondere die Mäuler der Fische, die wie Donald Ducks Schnabel geformt sind. Grimhild, die böse Königin des Märchens im Film „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ sieht ja auch sehr ähnlich wie die Statue von Uta Ballenstedt im mittelalterlichen Naumburger Dom aus.
Tierstatuen haben in der Vergangenheit die Phantasie von Generationen von Erwachsenen und Kindern geprägt. Wie der Hirsch über der Basilika von Sant’Eustachio oder die Katze an der Ecke von Palazzo Grazioli, die die Passanten anstarrt. Die Marmorkatze wurde im Heiligtum der Isis gefunden, wo sie als heiliges Tier galt. Der Legende nach soll an der von den Augen der Katze anvisierten Stelle ein Schatz versteckt sein. Jeder Versuch ihn zu finden war vergeblich.
Am Nachmittag des nächsten Tages setze ich die Besichtigung des steinernen Zoos fort. Es ist ein Sonntag voller Sonnenschein und Hoffnung auf die Rückkehr der Normalität. Es laufen und radeln viel mehr Menschen auf den Straßen. Man kann auch einige ausländische Touristen erkennen. Wer weiß, wie sie in einer Quarantäne-Zeit nach Rom gekommen sind!
Ich steige die Treppe, die von der Piazza dell’Aracoeli zum Kapitol führt, hinauf. Die Treppe wird von zwei ägyptischen Löwen aus dem Heiligtum der Isis in Campo Marzio bewacht. Die Strahlen der untergehenden Sonne spiegeln sich auf der vergoldeten Bronzestatue des Kaisers Marcus Aurel, der auf einem schönen Pferd reitet. Das Original befindet sich in den Kapitolinischen Museen. Wenn man an der linken Seite des Senatspalastes vorbeigeht, trifft man auf das Exemplar der Kapitolinischen Wölfin auf einer Säule. Das Tier, Symbol der Stadt, knirscht mit den Zähnen, um die Zwillinge Romulus und Remus, die gierig nach seiner Milch sind, zu verteidigen.
Ich entferne mich ein wenig vom Herzen der Altstadt in Richtung Piazza Barberini. Hier gibt es neben dem berühmten und viel besuchten Triton-Brunnen, abseits der Mitte des Platzes, ein kleines, aber anmutiges Werk von Gian Lorenzo Bernini: den Bienenbrunnen. Das Wasser, rein, kostbar und süß wie Honig, sprudelt aus den Mündern der drei Bienen.
Ich gehe die Via Veneto hinauf und betrete die Villa Borghese, um zum Brunnen der „Seepferde“ zu gelangen, der im späten achtzehnten Jahrhundert an der Kreuzung von vier baumgesäumten Alleen des Parks erbaut wurde. In einem großen kreisförmigen Teich sind vier Pferde, die Beine erheben sich über das Wasser und die Körper, die Fischform haben, sind im Wasser. Sie scheinen aus dem Brunnen springen zu wollen.
Als ich an der Treppe oberhalb der Villa Giulia ankomme, ist die Sonne bereits hinter den Pinien der Villa Borghese untergegangen. Die Zwillingsbrunnen vor der Nationalgalerie für Moderne Kunst sind jeweils mit acht Schildkröten geschmückt, aus denen ein schwacher Wasserstrahl hervorquillt.
Auf dem Platz sind einige Löwen platziert worden, die Teil der Installation „Hic sunt leones“ der Nationalgalerie sind. „Löwen sind Symbol und Metapher für die unerforschten Gebiete, für die terrae incognitae der Kunst, für alles, was es noch zu entdecken gibt und für alles, was geheim bleiben wird“.
Zwischen den vier Löwen und dem König der Tiere auf der Via dell’Orso sind mindestens zweitausend Jahre vergangen. Das Symbol und die Metapher sind nach wie vor gültig.