Lisa Mittelberger
In San Gimignano im Val d’Elsa blühen sogar die Steine. In dieser Stadt der antiken Türme (von den ursprünglich 72 sind noch 13 erhalten) blühen am 12. März, dem Todestag der Heiligen, in den Zwischenräumen der Steine wie von Zauberhand die Veilchen der Santa Fina, der Schutzpatronin von San Gimignano. Bevor man das historische Zentrum betritt, das von Touristen sehr beliebt ist, kann man die Stadt auf einem schönen Spaziergang entlang der Stadtmauern erleben. Es handelt sich um etwas mehr als zwei Kilometer in engem Kontakt mit der zweiten Stadtmauer der Stadt, die man in aller Ruhe durchwandern kann, wobei man auf Schritt und Tritt die Schönheit der Stadt atmet. San Gimignano ist eine besondere Stadt: Einerseits wetteiferten die Händler von Safran und anderen landwirtschaftlichen Produkten im 13. Jahrhundert um den höchsten Turm, um ihren Reichtum zu bezeugen – sie setzten damit die Idee der vertikalen Architektur frühzeitig in die Tat um – und andererseits ist die umgebende Natur ein unverzichtbares Element der Stadt. Auf diesem Spaziergang zeigt sich San Gimignano gerne von seiner grünen Seite, mit Ausblicken, die zum Innehalten einladen, um die Landschaft zu bewundern und sich im Einklang mit der Natur zu fühlen.
Später taucht man in die außergewöhnliche Architektur einer Stadt ein, die im Laufe der Zeit unverändert geblieben ist. Es ist, als hätte eine architekturbegeisterte Fee diese Wunderwerke mit einem Zauberspruch bewahren wollen, aber in Wirklichkeit erlitt San Gimignano nach einer verheerenden Pestepidemie und der Unterwerfung unter Florenz ab 1348 einen wirtschaftlichen Niedergang. Heute ist es sein Glück, denn es ermöglicht den Besuchern, die Atmosphäre jener Zeit zu erleben. Man müsste ein neues Wort prägen, um das Gefühl zu beschreiben, das man empfindet, wenn man durch die Gassen und auf den Plätzen geht, Einwohnern und Touristen begegnet, Palästen und Türmen bewundert und immer wieder von so viel Harmonie überrascht wird. In der Vergangenheit wurden die Gläubigen in der Kathedrale durch die Fresken, die Melodie der gregorianischen Gesänge und den Duft des Weihrauchs beeindruckt. Jetzt spricht die ganze Stadt alle Sinne der Menschen an, die sie besuchen.
In San Gimignano kann man über die Aufmerksamkeit nachdenken: Eine Gruppe älterer Menschen sitzt, jeder mit einem Stuhl, auf dem Domplatz, direkt vor der Fassade der Kirche und nicht weit von der Via Francigena entfernt. Sie beobachten, wie die Welt vor ihren Augen vorbeizieht. Man kann sich dabei fragen: Wie können wir wirklich sehen, wenn wir hektisch leben und nie richtig beobachten? Die Pilger, die sich langsam bewegen und einem Credo folgen, das sicherlich nicht das der vorherrschenden Bequemlichkeit ist, sind auch Teil dieser Stadt: Sie können unserer Gesellschaft die Botschaft des Eifers mitteilen. Die Veilchen von Santa Fina, die in den Zwischenräumen der Steinen blühen, zwingen uns, den Blick zum Himmel zu erheben und nicht nur, um das gelungenste Foto des Turms vor dem blauen Himmel zu schießen, sondern um seine Farben zu schätzen, die Gelb-, Orange- und Ziegelrot-Töne haben. Inmitten der Geschichte ist San Gimignano auch die Heimat der zeitgenössischen Kunst. Auf einem eigens eingerichteten Rundgang trifft man unter anderem auf die permanenten Installationen von Jannis Kounellis, Nunzio und Luciano Fabro, die eine ideale Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart geschaffen haben.
Um die Freude, in San Gimignano zu sein, noch höher steigen zu lassen, kann man die 218 Stufen der Torre Grossa, des höchsten Turms der Stadt, erklimmen. Doch bevor man den Blick über die Dächer, die anderen Türme und die umliegende Natur genießt, sollte man sich in der Gelateria Dondoli auf der Piazza della Cisterna stärken. Sergio führt mit seiner Familie die authentische Tradition der handgemachten italienischen Eiscreme fort. Er ist eine unerschöpfliche Quelle für neue Geschmacksrichtungen. In der Eisdiele kann man auch den „Champelmo“ probieren: ein Eis, aber auch ein Aperitif, denn es wird mit dem für San Gimignano typischen Vernaccia-Schaumwein und rosa Grapefruit hergestellt. Ein prickelnder Snack in einer Stadt, die immer wieder aufs Neue begeistert.
Das historische Zentrum von San Gimignano gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe, denn es ist eine Sammlung von Kunstwerken in Form einer Stadt. In der Toskana gibt es 7 weitere UNESCO-Welterbestätten: das historische Zentrum von Florenz, die Piazza del Duomo in Pisa, das historische Zentrum von Siena, das Val d’Orcia, die Buchenurwälder der Karpaten und anderer Regionen Europas sowie die Villen und Gärten der Medici in der Toskana.