Terra Italia

10 Jahre Terra ItaliaDie melancholische Schönheit des Südens

Text und Fotos: Cora Ebeling



 Bei einem Spaziergang durch die Altstadt Tarents atmet man an allen Ecken und Enden Geschichte ein dank der Zeugnisse von der Antike bis zur Renaissance

Tarent (TidPress) – Auf einer Reise nach Apulien im vergangenen Spätsommer kam ich unter anderem erstmalig nach Tarent, eine Stadt, über die ich zuvor widersprüchliche Meinungen gehört hatte. Interessant und sehenswert sagten einige, andere hingegen fanden sie schmutzig, übelriechend und heruntergekommen. Nun hatte ich Gelegenheit, mir selbst ein Urteil bilden zu können.
Den ersten Eindruck bekomme ich gleich zu Beginn unserer Besichtigung der historischen Altstadt, dem Borgo Antico. Auf der Piazza Castello kann man den ältesten Tempel der Magna Graecia bewundern, den Poseidon-Tempel, von dem noch zwei dorische Säulen erhalten sind. Die Ruine des Tempels aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. befindet sich im Hof des Oratoriums der Dreifaltigkeitskirche.
Geschichte zum Greifen nahe, denke ich, und der Eindruck bestätigt sich bei der nächsten Etappe, der Kirche San Domenico Maggiore, wo das gotische Portal und die romanische Rosette harmonisch mit der barocken Doppeltreppe verschmelzen. Nach nur einigen hundert Metern erreicht unsere Gruppe den Dom San Cataldo, auch Kathedrale genannt, der um 1070 erbaut wurde und byzantinische, romanische und barocke Einflüsse aufweist.
Ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen also, wie Reiseführer und Bekannte mir bereits angekündigt hatten.
Was nicht verwunderlich ist, denn die Stadt an der Ionischen Küste Apuliens ist in den 3000 Jahren ihres Bestehens wiederholt Opfer von Invasionen, Besetzungen und Zerstörungen gewesen. Obwohl sie deswegen keine bodenständige Kultur vorweisen kann, hat sie dennoch alle kulturellen Einflüsse aufgenommen.

Fassade der Kathedrale San Cataldo

Dorische Säulen des Poseidontempels

„Taranto Vecchia“, wie es in der Landessprache heißt, ist auf einer künstlichen Insel, einem früheren Isthmus, im 7.Jahrhundert v. Chr. als griechische Kolonie gegründet worden.
Sie ist mit dem neueren Teil der Stadt durch eine Drehbrücke über dem Kanal verbunden, die früher geöffnet wurde, um die Durchfahrt für Handelsschiffe und Seestreitkräfte zu ermöglichen.
Die Altstadt von Taranto soll einer weitreichenden Sanierungsaktion unterzogen werden, die auch die Renovierung der verlassenen Häuser vorsieht, die für soziale Zwecke genutzt werden sollen.
Die Bewohner stellen sich aber diesem Beschluss entgegen, da sie ihre Wohnungen nicht verlassen wollen. Das ist, wie in so vielen anderen Viertel südländischer Städte Italiens, der wunde Punkt von Taranto Vecchia. Die einst prachtvollen Häuser sind heruntergekommen, die barocken Fassaden bröckeln ab, keiner kümmert sich um Instandhaltung und Sauberkeit und dementsprechend sind die Gassen schmutzig. Die wohlhabenderen Leute haben sich seit jeher in den Neubauvierteln niedergelassen und die jüngeren sind ausgewandert, deswegen stehen viele Wohnungen leer. So leben in Taranto Vecchia fast ausschließlich Arme, Ausländer und ältere Leute, die dort schon seit Generationen wohnen.
Kaum jemand von ihnen wäre imstande sich woanders auch nur zeitweise ein Leben aufzubauen, deshalb weigern sich die meisten, umgesiedelt zu werden oder ihre Wohnungen für die Zeit der Renovierung zu verlassen. Zu diesem Zweck müsste man nämlich die ganze Altstadt evakuieren, da kein Gebäude kann davon ausgenommen werden kann.

Eine Kirche am Rand der Altstadt

Alltagsszene in einer Altstadtgasse

Luigi, unser Gruppenführer, erzählt uns wie er in jungen Jahren seine Heimat verlassen musste um studieren und später arbeiten zu können. Er versucht, dabei den anfänglich scherzhaften Ton beizubehalten, doch sein nachdenklicher Blick verrät, wie sehr er darunter gelitten hat, seine Heimat verlassen zu müssen und erst als gemachter Mann wieder zurückkehren zu können.
Als ich ein wenig von der Gruppe zurück bleibe, um ungestört ein paar Fotos zu machen, nähert sich mir ein etwas verwahrlost aussehender Junge und betrachtet neugierig meine Digitalkamera. Ich zeige ihm, wie sie funktioniert, mache ein Bild von ihm und er ist beeindruckt, dass man gleich darauf das Foto auf dem Display sehen kann. Seine Mutter tritt aus einem dunklen Hausflur und ruft ihn energisch zu sich. Sie beäugt mich misstrauisch, schließlich sind einzeln herumstreunende „Stranieri“ (Fremde) hier kein häufiges Erscheinungsbild, da Touristen meistens in Gruppenführungen von einer Sehenswürdigkeit zur anderen geschleust werden und mit den Einheimischen praktisch keinen Kontakt haben. Es gibt hier kaum eine Bar noch ein Restaurant, und wenn, dann werden sie nur von Ansässigen besucht. Der Begriff nachhaltiger Tourismus ist hier noch ein Fremdwort. Als ich der Mutter des Jungen lächelnd zurufe, dass ihr Sohn später bestimmt einmal Fotograf werde, blickt sie allerdings gleich etwas freundlicher.

Wenn man als Besucher durch die Gassen spaziert und den südländischen Flair genießt mit der bunten Wäsche vor den Fenstern, den spielenden Kindern auf der Straße und den älteren Leuten, die ein Schwätzchen vor der Haustür halten, sieht man oft über den heruntergekommenen Zustand der Gebäude hinweg. Man geht praktisch mit Scheuklappen umher, hält seine Handtasche fest und macht Fotos von Kirchen und Denkmälern, die ja so wunderschön sind aber leider auch alle der Restaurierung bedürften.
Ich persönlich habe in der Altstadt von Tarent das gleiche Gefühl erlebt wie in anderen Viertel süditalienischer Städte, die ich besichtigt habe. Diese geschichtsträchtigen Orte haben nicht nur künstlerische und architektonische Schmuckstücke als Zeugnisse einer einst prächtigen Vergangenheit zu bieten, sondern verbreiten eine gewisse wehmütige Resignation, mit der die Einwohner zu leben gelernt haben.
Man sollte als Tourist versuchen, sich besagte Scheuklappen abzunehmen und in den Alltag der Leute hineinzuversetzen. Vielleicht kann man somit besser das Gefühl nachvollziehen, dem Verfall der geliebten Heimat praktisch ohnmächtig zuschauen zu müssen oder schlimmer noch, gezwungen zu sein, sie zu verlassen um sich in der Fremde eine würdige Existenz aufbauen und seinen Kindern eine Zukunft sichern zu können.
So atmet man nicht nur, wie anfangs gesagt, Geschichte ein, sondern das Leben, so wie es dort ist, eine unverwechselbare Mischung aus Lebensfreude und Melancholie.

Cora Ebeling ist seit 2006 Mitarbeiterin von Terra Italia. Sie reist oft durch Italien und erzählt, wie
sehr Geschichte und Lebensstil das „Land, wo die Zitronen blühn“ mit Emotionen bereichern, die jeder Tourist erleben kann

Cora Ebeling erkundet
die Schönheiten des Bel Paese

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