Hügeln, Bergen, Wäldern und Gletschern umgeben ist. Milde Temperaturen
(“in freier Natur” wachsen Meerpinien und Palmen), strahlendes
Sonnenlicht, im Frühjahr und Sommer seltene Niederschläge, reichlich mit
Schnee versehene Skipisten sowie Thermalquellen könnten aus Saint-Vincent
einen idealen Urlaubsort machen. Dem ist aber nicht so, und zwar aufgrund
des berühmten Casinos, des größten Europas. Es ist bekannt wegen der hohen
Professionalität seiner Croupiers, für seine französischen Glücksspiele
wie Chemin-de-Fer (eine Art Bakkarat), aber auch für Black Jack, für
Amerikanisches Roulette und für seine Slot Machine.
“Allzu lange”, erklärt der Bürgermeister, Mario Borgio, “hat Saint-Vincent
nur von den Einkünften aus der Spielhölle gelebt. Dieser Wohlstand hat
einen Zustand der Passivität erzeugt. Wir sind darauf sitzen geblieben”.
Die Leute am Ort zogen es vor, den Croupier für 15 Mio. Lire im Monat oder
einen Kellner im Casino für 5 Millionen Lire im Monat zu machen, anstatt
ein Hotel oder ein kaufmännisches Unternehmen zu leiten. Deshalb ist
Saint-Vincent in den letzten zwanzig Jahren hinsichtlich der Qualität der
touristischen Dienstleistungen abgestiegen.
Aber auch die Besucher des “Casino de la Vallée” haben gewechselt.
Zunächst kamen sie mit dem Partner, der Ehefrau oder vielleicht sogar mit
der gesamten Familie, um neben den Glücksspielen auch einen Urlaub zu
verbringen. Der Spieler von heute ist von Typus “Schlage zu und
verschwinde”. Er kommt am Nachmittag am Flughafen von Turin oder Mailand
an, lässt sich im Taxi zum “Casino de la Vallée” bringen, spielt die ganze
Nacht hindurch, und in den ersten Morgenstunden verschwindet er aus
Saint-Vincent, als müsste er einem Dämon entfliehen – ohne in einem Hotel
zu Bett gegangen zu sein, vielleicht sogar, ohne in einem Restaurant
gespeist zu haben.
Die Zukunft des valdostanischen Städtchens muss neu entworfen werden. Es
muss jene Vergangenheit wieder entdecken, als das 1900 im Jugendstil
erbaute Thermalbad von Königin Margherita di Savoia und der italienischen
Aristokratie frequentiert wurde. Der Thermalpalast auf der Spitze eines
Hügels, mit Panorama-Blick auf die Alpenkette, wird gerade restauriert. In
zwei Jahren werden die Blumenornamente und die bunten Glasfenster wieder
leuchten. Neben den Kuren mit dem Heilwasser, das gegen einige Leber- und
Darmerkrankungen angezeigt ist, wird ein Fitness-Zentrum errichtet.
Betrachtet man alte Fotos von Saint-Vincent, bemerkt man, dass die
Kleinstadt vor hundert Jahren viel schöner war als heutzutage. Einige
Perspektiven sind von modernen, zu hohen Gebäuden abgeschnitten worden,
und einige Kirchen sind schlecht restauriert. Das im frühen 20.
Jahrhundert errichtete Grand Hotel Billia, das an einigen Stellen an die
Architektur alpiner Schlösser erinnert, wurde später in den 60er Jahren
verschandelt, indem man an der Fassade scheußliche Balkone aus Eisen und
Metall anbrachte, ganz zu schweigen vom neuen Flügel des Hotels, der wie
ein weiterer Schlag in Gesicht wirkt.
In den allerletzten Jahren hat die Gemeindeverwaltung jedoch einige gute
Dinge getan. Beispielsweise wurde ein großer unterirdischer Parkplatz
gebaut, und vom nächsten Sommer an wird das Stadtzentrum autofrei sein.
Wenn die Projekte und Investitionen Erfolg haben, wird Saint-Vincent in
spätestens drei bis vier Jahren wieder in der Atmosphäre einer
touristischen Stadt von einst leben. Alle Voraussetzungen hierfür sind
vorhanden: Die Natur in der Umgebung ist wunderschön, und es genügt,
einige hundert Meter in Richtung Gebirge zu gehen, um das eindrucksvolle
Panorama der Alpen zu bewundern.
Zudem nimmt Saint-Vincent eine sehr zentrale Position im Aosta-Tal ein
(www.regione.vda.it/turismo). Es liegt 86 Autobahn-Kilometer von Turin und
156 km von Mailand entfernt und ist damit ein idealer Ausgangspunkt für
Ausflüge ins Aosta-Tal (man benötigt im Pkw etwa eine halbe Stunde, um
Cervinia, Champoluc oder Aosta zu erreichen; in einer Stunde kommt man
nach Courmayeur, Gressoney La Trinité und zu den Schlössern von Verrés,
Issogne, Fénis, Saint-
Pierre ).