Terra Italia

Weihnachten in Turin mit den “Luci d’artista”

Paolo Gianfelici

Die “Piccoli spiriti blu” schwirren über der Kirche S. Maria del Monte dei Cappuccini. Ein „verrückter“ Aufzug befördert die Besucher des Filmmuseums an die Spitze der Mole Antonelliana, wo man ein atemberaubendes Panorama genießen kann. Versuchen Sie – mit dem Grafen Cavour als Tischnachbar – doch einmal mit Fleisch gefüllte Teigklößchen mit Trüffeln!




(Archiv Città di Torino)

Turin (Terra Italia) – Wenn Sie nach Rom, Florenz oder Venedig kommen, finden Sie das, was Sie suchen und was Sie erwarten. Wenn Sie jedoch hierher kommen, finden Sie viel und noch viel mehr – wahre Überraschungen für den Besucher.

In der kollektiven Phantasie sind die Hauptstadt des Piemonts und die Industrieanlagen von Fiat ein und dasselbe, was zur Folge hat, dass es nur den Geschäftstourismus gibt. Am Freitag Abend leeren sich die Hotels von Turin, um sich erst am Montag wieder zu füllen. Alle Werbekampagnen für das Wochenende sind bisher ergebnislos verlaufen.

Die Italiener aus anderen Regionen und die Ausländer (Frankreich und die Schweiz befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft) verschmähen diese Stadt. Die Direktorin eines großen Hotels sagte mir: „Wer eine Erholungsreise in die USA macht, besucht nicht Detroit. Das gleiche trifft auf Turin zu“ – allerdings mit einem gewaltigen Unterschied: Turin ist nicht Detroit!

Um sich dessen bewusst zu werden, genügt es, bis an die Spitze der Mole Antonelliana, jenes seltsamen Bauwerks aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, emporzufahren. Dieser aus Stein gemauerte „Eiffelturm“ ist 167 m hoch und erlaubt einen Rundblick auf eine sehr abwechslungsreiche Gegend: Im Osten befinden sich der Po und eine Hügellandschaft, im Westen sieht man in der Ferne die Alpen mit ihren Gletschern, wo die Olympischen Winterspiele von 2006 stattfinden werden.

Am Fuß der Mole erstreckt sich eine zum großen Teil im 18. und 19. Jahrhundert erbaute Stadt, deren Straßen im Unterschied zu denen der anderen italienischen Städte sehr lang, recht breit und rechtwinkelig sind. An ihnen liegen nüchterne Gebäude, aber hier und da erspäht man prächtige Barockkirchen oder beeindruckende neoklassizistische religiöse Bauwerke, wie die Gran Madre di Dio gleich nach dem Ponte Vittorio Emanuele I auf dem anderen Ufer des Pos.

Eine 18 km (!) lange Promenade unter den Arkaden der Straßen und Plätze von Turin führt von der Via Roma (Shopping der Luxusklasse) zur Piazza San Carlo (Verpflichtend ist ein Halt in einem der zwei antiken Cafés, um ein winziges, wohlschmeckendes piemontesisches Gebäck zu probieren), dann zur Piazza Castello (mit dem Palazzo Madama und dem Palazzo Reale). Turin war die Hauptstadt zuerst des Königreichs Piemont-Sardinien, dann bis 1865 des Königreichs Italien. Dieses Aussehen einer ehemaligen Hauptstadt zeigt sich an vielen bedeutenden Bauwerken (Palazzo Carignano, Galleria dell’Industria Subalpina usw.), wie sich auch der nüchterne und rationale Charakter der Militärstadt erhalten hat (Das Königreich Piemont-Sardinien war das italienische Preußen).

Wenn man aber unter den Portici der Via Po weitergeht, entdeckt man ein anderes, auf wundersame Weise unberührtes Italien. Dutzende und Aberdutzende von Geschäften mit Blendrahmen an den Vitrinen, die denen vor hundert Jahren aufs Haar gleichen. Auch die ausgestellten Gegenstände sind antik: Bücher, Schallplatten, Graphiken und Nippsachen. Flaniert man weiter durch diese Oase des no-global Kommerzes, gelangt man an die Piazza Vittorio Veneto, einen riesigen Exerzierplatz, und ans Po-Ufer.

Bei Einbruch der Nacht ist es ratsam, ein zweites Mal die Mole Antonelliana hochzufahren. Die Kabine des „verrückten“ Lifts ist ohne ‚Käfig’, und man befindet sich in der Luft inmitten der immensen Kuppel der Mole. Die eigentlichen Emotionen folgen aber erst danach, wenn man von der Höhe aus das bis 15. Januar 2003 von den „Luci d’autore“ (künstlerisch gestaltete Beleuchtung) illuminierte Turin bewundern kann. Dies hat nichts mit der oft gemütlichen, aber kitschigen Weihnachtsbeleuchtung der anderen Städte zu tun. Die „Luci d’autore“ wurden von großen italienischen und ausländischen Künstlern kreiiert, und einige haben eine szenische Ausstrahlung noch in weiter Ferne, wie die „Piccoli spiriti blu“ (Kleine blaue Geister) von Rebecca Horn, die um die auf den Hügeln jenseits des Po gelegene Kirche S. Maria schwirren.

In den unteren Stockwerken der Mole Antonelliana befindet sich das im Jahre 2000 eröffnete nationale Filmmuseum. Der Besucher gelangt in eine Welt des Lichts, wo das Auge allseits Anregungen empfängt. Zu Beginn wird die Archäologie des Kinos vorgestellt, am Ende des Rundgangs kommt man in die Aula des Tempels, wo in Sesseln liegende Besucher 40 Minuten lang eine Anthologie markanter Filme des vergangenen Jahrhunderts betrachten. Ringsum befinden sich zehn ‚Kapellen’, die dem Kult des Films geweiht sind und die Geschichte der siebten Kunst erzählen.

Die Inszenierung des Schweizer Architekten François Confino ist ingeniös: Das räumliche Fassungsvermögen der Mole verleiht den ausgestellten Objekten Leben. Und dann dieser seiltänzerische Aufzug, der im Zentrum des Filmtempels aufsteigt und herunterfährt (mit wirklichen Passagieren!), ein wahrer Meisterstreich.

Das Abendessen wird im Restaurant „Il Cambio“ an der Piazza Carignano serviert, wohin der Conte di Cavour, der erste Regierungschef des geeinten Italiens, täglich zum Essen ging. Die Atmosphäre, die Einrichtung und sogar der Tisch, an dem sich der Staatsmann niederließ, sind tatsächlich unverändert geblieben. Man sollte aber die klassischen, mit Fleisch gefüllten Butterteigklößchen, dazu Trüffel aus Alba, keinesfalls versäumen.

Nach dem Abendessen ist ein Spaziergang angesagt. Ausgangspunkt ist die Porta Palazzo, dann geht es durch den Quadrilatero Romano, eine Fußgängerzone mit Trendlokalen vieler Kulturen und Bistros mit Musik, die bis tief in die Nacht geöffnet bleiben. Zum Aufwärmen muss man in den „Bicerin“ (das Gläschen), das berühmte Café des Quadrilatero, gehen und eine Tasse heißer Schokolade trinken.

Museumsbesuche: Das bedeutendste Museum von Turin und in seiner Art vielleicht von Europa ist das „Museo Egizio“ (Ägyptisches Museum). Die Stadt hat in den letzten Jahren jedoch auch die italienische Spitzenposition für die zeitgenössische Kunst errungen.

Das Schloss von Rivoli (www.castellodirivoli.org) beherbergt das einzige italienische Museum, das ausschließlich der zeitgenössischen Kunst gewidmet ist. Im Langhaus des Schlosses sind bis 23. März 2003 die Werke von Künstlern der „Transavanguardia“ ausgestellt.

Der „Lingotto“, das ehemalige Automobilwerk von Fiat, das aus der Zeit vor 80 Jahren stammt, ist in ein Kongress- und Ausstellungszentrum umgestaltet worden. Man kann dort die Werke der Agnelli-Pinakothek bewundern: An keinem Ort in Italien befindet sich eine so umfangreiche Sammlung von Gemälden von Henri Matisse. Schließlich fand hier im vergangene November, wie jedes Jahr, die „Artissima 2002“ (www.artissima.it) statt. Diese bedeutendste italienische Veranstaltung, die den innovativsten Tendenzen der zeitgenössischen Kunst aus der ganzen Welt gewidmet ist, lässt sich mit der „Documenta“ in Kassel vergleichen.


Palazzo Reale (Archiv Città di Torino)
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